Die Entstehung von Nationen und die Entwicklung von sogenannten „Nationalreligionen“ aus den primitiven Naturreligionen ermöglichte es den Menschen, ihren mentalen Horizont zu erweitern und ein deutliches Wachstum an persönlichem Bewusstsein hervorzubringen. Durch die Interaktion mit den anderen Mitgliedern der Nation und die gemeinsame Reflektion entwickelten die Menschen ihre Individualität und ihre Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Als Folge gewannen die Religionen einen ethischen Charakter und transzendierten die naturalistischen und materialistischen Beschränkungen.
Aus dem Polydämonismus der Naturreligionen erwuchs der Polytheismus der Nationalreligionen. Die alten Naturgeister werden nun anthropomorph und erhalten somit menschliche Eigenschaften sowie persönliche Namen. Sie werden in den Status von Göttern erhoben und es gibt nun ein Götter-Pantheon. Der Philosoph und Theologe Mill Edwards (1873–1941) sagt, die Götter, nun gesittet und humanisiert, seien zu Schutzheiligen für bestimmte Bereiche des Lebens geworden, wie zum Beispiel die Landwirtschaft, Liebe, Kunst, das Schicksal und den Krieg. (1)
Die humanisierten Götter betrachtete man als Personen. Es begann also eine persönliche Beziehung zwischen Gott und Mensch. Die nationalen Wertvorstellungen und Ideale wurden zu göttlichen Eigenschaften, sodass diese bis heute Zeugnis geben vom Nationalcharakter der jeweiligen Völker. Die Götter waren jedoch nicht nur humanisiert, sondern auch idealisiert, denn sie galten als Repräsentanten von Menschen mit herausragenden Eigenschaften.
Ferner findet man Elemente eines Supernaturalismus: Die Menschen hatten die Empfindung, dass die Götter nicht an die profane Schöpfung gebunden sind, sondern übernatürlichen Ursprungs sein müssen. Den Menschen wurde also allmählich das spirituelle Reich Gottes bewusst, und dies ebnete den Weg für eine nächste Weiterentwicklung des religiösen Empfindens (George Galloway). (2)
Darüber hinaus finden sich zwei weitere wichtige Weiterentwicklungen in der Phase der Nationalreligionen, und zwar die Ausprägung ethischer Grundsätze und die Entwicklung in Richtung eines Monotheismus. Bereits der persische Weise Zarathustra predigte 1768 v. Chr. über den monotheistischen Schöpfergott Ahura-Mazda.
Obwohl die von den indo-arischen Weisen verfasste Schrift mit Namen „Rig-Veda“ ein symbolisches Götter-Pantheon beschreibt, waren die Verfasser bereits 1750 v. Chr. davon überzeugt, dass es nur einen absoluten, universalen Geist gibt. In Sanskrit lautet die Bezeichnung für dieses Absolute, also für die Supreme-Seele, Param-Brahma oder Param-Atma.
Hier zwei Fundstellen aus dem Veda, die dieses Absolute ansprechen:
- Er ist eins und ewig, aber wir geben Ihm viele Namen (Rik. I/164/16).
- Diverse Morphogenesen sind nur aus einer Emanation der singulären Divinität (Rik. X/82/3).
Auch Hammurabi, der König von Babylon (1728–1686 v. Chr.) predigte im Codex Hammurabi bereits vom Weltenschöpfer, dem höchsten Gott Marduk.
Der profunde Denkanstoß eines absoluten, universalen Geistes prägt bis heute unser modernes religiöses Bewusstsein.
Wie bereits angedeutet, wurden in den Nationalreligionen die Götter als Moralinstanz und Wächter der ethischen Ordnung betrachtet. Götter wurden als Richter stilisiert, zuständig für Belohnung und Bestrafung der gesamten Menschheit oder des Individuums als Konsequenz für ihre guten oder verwerflichen Taten und Verhaltensweisen. Religion und Moral bzw. Ethik wurden eine Einheit. (3)
Die Weiterentwicklung des religiösen Bewusstseins führte zu der Überzeugung, dass Religion nicht eingeschränkt werden sollte durch Bedingungen, Bestimmungen oder sonstige rein äußerliche Maßnahmen. Religion sollte nur die Seele des Menschen berühren. Daher ist es wichtiger und fundamental, die Realisierung des Göttlichen im inneren Kern eines Menschen anzustoßen, statt irgendetwas Äußeres in den Mittelpunkt des Gebetes zu stellen. Swami Vivekananda sagt: Religion ist Selbst-Erkenntnis!
Die Konzeption der Religion änderte sich, als der Mensch erkannte, dass seine innere Erfahrung die Essenz der Religion ist. Gott wurde nun gleichgesetzt mit der Seele des Individuums, dem Ideal der Vollkommenheit, dem ultimativen Ziel. Sein Ideal verwirklicht der Mensch in seiner ganz persönlichen spirituellen Erfahrung, und die Religion ist lediglich Wegweiser im Leben. Das Bewusstsein der Gegenwart Gottes in Form der Seele in allen Menschen führt zu einer dienenden und liebenden Haltung gegenüber allen Menschen, ja allen Kreaturen dieser Welt. Somit transzendiert der Mensch sein individuelles Selbst und entwickelt sein universelles Bewusstsein und erkennt die Einheit und die Solidarität der Menschheit. Die Religion bekommt einen humanistischen Glanz. Jetzt wird die fundamentale Wahrheit klar, dass die Spiritualität ein gemeinsames Erbe der Menschheit darstellt, die Essenz der Religion die spirituelle Erhebung ist und deshalb die Riten, Rituale und Zeremonien absolute Oberfläche sind. Eine humanistische Religion zielt auf Selbstverwirklichung, ohne Rücksicht auf Klasse und Rasse. (4)
Es gibt einen Übergang von der materiellen in die spirituelle Welt. Die Sehnsucht des Menschen, in seinem Leben etwas Ewiges, Grenzenloses zu erleben, inspiriert ihn dazu, die Begrenzung des Ego zu überwinden, um in den Ozean des grenzenlosen Bewusstseins eintauchen zu können. Durch entsprechende Bemühungen überwindet er die ihn umgebende materielle Welt und er dringt in die Sphäre des Göttlichen vor. Sein ihm innewohnendes Wahrnehmungsvermögen umhüllt die gesamte Schöpfung mit göttlicher Liebe, mit der Bestrebung, die Erlösung der gesamten Menschheit zu ermöglichen (Bodhisattva-Aspekt!). Deshalb ist eine richtig verstandene Religion humanistisch. Eine Universalreligion wird von zwei entscheidenden Aspekten gekennzeichnet: erstens ist sie von Menschlichkeit geprägt, und zweitens befindet sie sich in einem ständigen Entwicklungsprozess. (5)